Paul Lindner (1845–1924). Wiederentdeckung einer historischen Fotosammlung in der Bibliotheca Hertziana
Inhalt
AUSSTELLUNG: 18. September bis 6. Dezember 2024
Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Palazzo Zuccari, Via Gregoriana, 28, 00187 Rom RM
Paul Lindner ist in der Forschung bisher weitgehend unbekannt, obgleich verschiedene Institutionen wie das Deutsche Archäologische Institut (DAI), die Bibliotheca Hertziana, das Istituto Centrale per il Catalogo e la Documentazione (ICCD) und vermutlich noch einige andere Archive Fotografien von ihm besitzen. Im Jahr 2020 war dem Fotografen erstmals ein Studientag gewidmet, den Sylvia Diebner, frühere Leiterin der Fotothek des DAI, in Zusammenarbeit mit Regine Schallert am DAI organisiert hatte. In einer Ausstellung im Palazzo Zuccari werden erstmals Fotografien dieses begabten Amateurfotografen gezeigt, nicht zuletzt auch, um die durch die Corona-Pandemie unterbrochenen Forschungen wiederaufzugreifen. Gegenstand ist der seit 1928 in der Fotothek der Bibliotheca Hertziana vorhandene Bestand.
Eine Schenkung des Deutschen Archäologischen Instituts von 1927/1928
Der Bestand von ca. 500 Glasplattennegativen ist in den Jahren 1927/1928 als Schenkung des DAI in die Bibliotheca Hertziana gekommen. Überliefert ist dies lediglich durch einen kurzen Vermerk im damaligen Hertziana-Jahresbericht, der leider weder den Namen des Autors noch das Thema der Fotos benennt. Der Zusammenhang der genannten Schenkung mit dem Gründungsbestand des Negativarchivs der Fotothek und dessen Zuschreibung an Paul Lindner konnte allein dank des genauen Studiums der Platten selbst aufgedeckt werden, die sich als wertvolle Quelle zahlreicher Informationen erwiesen. Grundlage dazu waren vor allem die von Sylvia Diebner begonnenen Forschungen.
Diebner war 2019 in einem alten Zugangsinventar der Sammlung des DAI erstmals auf den Namen Lindner gestoßen. Sie konnte dadurch nicht nur zahlreiche seiner Fotografien im Bestand sichten, sondern fand auch Informationen zu den Absichten des Instituts, Fotografien, die nicht für die archäologische Forschung, sondern für die Kunstgeschichte relevant seien, aus der Sammlung auszusondern. Ihre Vermutung, dass die Bibliotheca Hertziana Adressat dieser Schenkung gewesen sein könnte, bestätigte sich durch die detaillierte Untersuchung der Platten im Negativarchiv der Hertziana.
Die Identifizierung der Negative von Paul Lindner
Die Platten sind am unteren Rand immer mit alten Inventarnummern in Bleistift oder durch Einritzungen in die Emulsion gekennzeichnet, einige sind mit Ausschnitten aus einem Papierinventar mit der entsprechenden Beschriftung versehen. Letzteres ist nur auf den Platten, nicht aber in den mit dem Durchlichtscanner angefertigten Scans sichtbar, weshalb es bislang nicht bemerkt worden war. Dieselben Charakteristika wurden auch bei der anschließenden Untersuchung der DAI-Negative nachgewiesen. Der Lindner-Bestand in der Bibliotheca Hertziana beläuft sich somit auf 300 Glasplatten im Format 21 × 27 cm und 200 im Format 13 × 18 cm.
Die Fotopositive
Im Bestand der Fotothek gibt es zu fast allen Lindner-Negativen einen Abzug. In der kurzen Nachricht zur DAI-Schenkung von 1927/1928 wurden aber nur die Platten genannt. Die Abzüge wurden vermutlich erst Anfang der Dreißigerjahre durch die Bibliotheca Hertziana angefertigt, denn in den Inventarlisten der Fotothek aus diesen Jahren sind wiederholt neue Abzüge von bereits in der Sammlung befindlichen Platten vermerkt. Auch die uniforme Qualität der annähernd 500 Fotopositive, Silbergelatine auf dickem Barytpapier, spricht für diese Datierung. Es handelt sich demnach nicht um Abzüge von Lindner, der ja bereits um 1924 verstorben war. Wie seine bislang bekannten Handabzüge belegen, arbeitete er überwiegend in den um 1900 verbreiteten Techniken Albumin und Kollodium und versah die Fotografien zudem mit seinem Namensstempel, den die Abzüge der Hertziana nicht aufweisen.
Paul Lindner – Offizier und Fotograf
Paul Lindner (um 1865 – um 1924), war Hauptmann in der Königlichen Sächsischen Armee und hatte sich insbesondere im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 verdient gemacht. Wann und wo er seine fotografischen Kenntnisse erworben hat ist nicht bekannt. Vermutlich war er in Dresden stationiert und so liegt es nahe von einer Ausbildung in der sächsischen Hauptstadt auszugehen. Seit 1887 in Rom als Gast des DAI nachweisbar, verfasste Lindner zusammen mit dem Archäologen Christian Hülsen eine dem großen Kartographen der römischen Campagna, Generalfeldmarschall Graf von Moltke gewidmete topographische Studie zur Alliaschlacht, die 1890 veröffentlicht wurde. Bereits damals war er vom Gebiet der Marcigliana, wo die Allia in den Tiber mündet, und der römischen Campagna fasziniert, wovon zahlreiche Fotografien von Büffeln, Landhäusern und der Landschaft zeugen, die sich vor allem in den Beständen des DAI und des ICCD befinden.
Paul Lindner am Deutschen Archäologischen Institut in Rom
Lindner war über einen Zeitraum von ca. 1887 bis ca. 1914 (vermutlich mit Unterbrechungen) Gast im DAI in Rom. Das Institut war von zentraler Bedeutung für ihn. Seine sozialen Kontakte waren eng mit dem Kreis der Institutsmitglieder und Gäste verknüpft, zu dem nicht nur Archäologen, sondern auch Architekten und Gymnasiallehrer zählten. Die meisten der länger in Rom weilenden Deutschen und Österreicher waren außerdem Mitglieder des Deutschen Künstlervereins (DKV), so etwa die Archäologen Christian Hülsen, August Mau, Eugen Petersen, Maler und Bildhauer wie Heinrich Gerhardt, Othmar Brioschi aber auch Paul Lindner selbst. Der Hauptmann muss in diesem Gefüge als Fotograf eine ganz eigene Position gehabt haben. Die Wissenschaftler brauchten ihn für ihre Fotokampagnen, die Gymnasiallehrer konnten bei ihm günstig Fotos für ihre Lehrsammlungen erwerben und zudem war Lindner so etwas wie der Fotograf des Deutschen Künstlervereins, der nicht nur Kunstwerke, sondern auch soziale Aktivitäten im Bild festhielt. So umfassend das Netzwerk um das Epizentrum DAI auch gewesen sein mag, so begrenzt ist dennoch die Verbreitung der Fotografien Lindners geblieben. Er hatte sein Atelier in einem Zelt im Garten des Instituts, das damals seinen Sitz auf dem Kapitol hatte, und verfügte weder über ein eigenes Geschäft noch ließ er seine Fotografien über spezialisierte Unternehmen (wie beispielsweise Spithöver) vertreiben. Seine Kontakte scheinen ausschließlich über das DAI zustande gekommen zu sein, während er für die erst 1913 eröffnete Bibliotheca Hertziana offensichtlich nie gearbeitet hat.
Licht und Schatten
Der Bestand der Bibliotheca Hertziana umfasst vor allem Architekturaufnahmen, kaum vertreten sind hingegen Innenräume und Werke der Skulptur und der Malerei. In der Zusammenschau fällt Lindners Vorliebe für starke Licht- und Schattenkontraste ins Auge. Der frühe Nachmittag war seine bevorzugte Zeit, in der die Sonne noch hoch genug steht, um enge Gassen genügend auszuleuchten, die Schatten aber zugleich schon etwas länger werden und dekorative plastische Formen und Profile in den Architekturgliederungen betont erscheinen. Während ein professioneller Fotograf solche, zur individuellen Interpretation einladenden Kontraste in einer ausgewogenen Dokumentation zu vermeiden gesucht hätte, ist dies indes ein wichtiges Stilmittel Lindners.
Mit „Hingebung und regem Eifer“: Lindners Arbeit für Theobald Hofmann
Einer der wichtigsten Auftraggeber Lindners war der Architekt Theobald Hofmann (1861–1953). Er war korrespondierendes Mitglied des DAI und 1890/1891 Gast in Rom. Als Architekt des Historismus war für ihn das antike Erbe die wichtigste Referenz. Zwischen 1890 und 1911 war Hofmann mit einer umfangreichen Untersuchung zu „Raffael in seiner Bedeutung als Architekt“ befasst, die er in vier reich illustrierten Prachtbänden publizierte. Lindner war mit größeren Kampagnen zu jedem dieser Bände betraut, die er laut Hofmann „mit Hingebung und regem Eifer“ ausführte. Tatsächlich hat Hofmann fast den gesamten Ertrag der Kampagnen publiziert, der Teil der Schenkung des DAI ist.
Renaissancepaläste in Rom
Außer den vatikanischen Palästen fotografierte Lindner für Hofmann auch die bedeutenden Renaissancepaläste in Rom. Da der Fotograf nicht versuchte, die Architekturen freizustellen, sondern sie im urbanen Gefüge zeigte, entfaltet diese Kampagne ein reiches Bild des historischen Zentrums Roms um 1900. Viele Palazzi, insbesondere im Borgo, sind schon wenige Jahre später Opfer der großen städteplanerischen Eingriffe geworden und nur noch durch Fotografien wie die von Paul Lindner überliefert.
Urbino, Gubbio, Fossombrone und andere Renaissancepaläste
Hofmanns Untersuchung zu Raffael als Architekt erstreckte sich auch auf die Renaissancearchitektur in den kleineren Zentren in Latium, Umbrien und den Marken. Es sind Aufnahmen von Herzogspalästen einstiger Größe, vom Verfall bedroht in ländlichen, armen Gebieten, die um 1900 noch keine besondere Aufmerksamkeit und Pflege genossen. Lindners Fotografien sind weit entfernt von einer Ruinenästhetik, aber er blendete die Spuren des Verfalls auch nicht aus und entsprach damit vermutlich einer Bewertung Hofmanns, der in Bezug auf Rom vom „jahrhundertelang gepflogenen Raubbau“ und den gigantischen Resten als Zeugen verlorener Größe spricht (Hofmann 1902, S. 9 f.).
Kirchen in Rom
Zum Bestand der Bibliotheca Hertziana gehören zahlreiche Aufnahmen von Kirchen, die Lindner zum Teil für den von Hofmann geplanten fünften Raffael-Band zu den kirchlichen Bauten (nicht publiziert) angefertigt haben dürfte. Besondere Beachtung verdient eine Serie von barocken Kuppelkirchen, die von Lindners fotografischem Talent zeugen: Zumeist von einem erhöhten Standpunkt aus, den Lindner immer ausfindig zu machen verstand, erhebt er die Kuppeln gleichsam über die darunterliegende kleinteilige gebaute und gelebte Welt und macht so ihr architektonisches Volumen sichtbar, wobei er sich dafür auch des Effekts der geringeren Tiefenschärfe mittels des Weitwinkelobjektivs bedient, um die Kuppeln vor einem verschwommenen Hintergrund klar abzuzeichnen.
Architektonische Größe
Die Größe der architektonischen Welt ist in vielen Aufnahmen betont, indem der Fotograf absichtsvoll verschwindend klein erscheinende Menschen mit ins Bild nimmt, so etwa vor der gigantisch wirkenden Fassade von S. Flaviano (Montefiascone), oder vor jener von S. Eustachio (Rom), die dem Betrachter mit dem Blick durch die schmale Via della Palombara wie eine zu entdeckende, verzauberte Architektur präsentiert wird. Um die allzu starken Lichtkontraste dieser Aufnahme zu reduzieren hat Lindner, der seine Negative normalerweise nie retuschiert hat, diese Platte seitlich mit Pergamentpapier abgeklebt.
Stadt, Land und Leute
Eine Gruppe von Fotografien ländlicher Dörfer zeugt von Lindners leidenschaftlichem Interesse an der Landschaft und ihren Menschen. Diese Fotografien sind jedoch nicht privat entstanden, sondern zumindest teilweise im Auftrag des Oberstudienrats, Autors und Herausgebers Otto Eduard Schmidt, der Lindner vor 1899 am DAI kennengelernt hatte. In einem Bericht zum klassischen Anschauungsunterricht, der sich insbesondere an Gymnasiallehrer richtete, hat er nicht nur die Kontaktadresse des Fotografen in Umlauf gebracht – das Zelt im Garten des Instituts in der Via di Rupe Tarpea 28 – und ihm damit sicherlich einen großen Gefallen erwiesen, sondern auch darauf hingewiesen, dass Lindner Fotografien anbiete, die in den üblichen großen Ateliers nicht zu finden seien, und dass er gelegentlich auch „gegen wirklich billige Entschädigung in entlegeneren Gegenden Italiens“ fotografiere (Schmidt, 1899, S. 322).
Die Erschließung der Sammlung
Die Ankunft der umfangreichen Glasplattensammlung in der Bibliotheca Hertziana markierte zugleich den Startpunkt der Inventarisierung der eigenen Negativbestände. Ein Inventar, das sogenannte Plattenbuch, wurde angelegt, dessen erste Eintragungen den Negativen Lindners gewidmet sind. Eine größere Auswahl der Digitalisate des Plattenbestands kann in dem nebenstehenden Video betrachtet werden.
Zur Sammlung der digitalisierten Glasplattennegative Paul Lindners im Online-Katalog der Fotothek
Literatur
- Becchetti, P., La fotografia a Roma dalle origini al 1915, Rom 1983, S. 317.
- Diebner, S., Der österreichische Maler Othmar Brioschi (1854–1912). Sein Atelier im Palazzo Venezia in Rom, in: Rivista dell’Istituto Nazionale d’Archeologia e Storia dell’Arte, 3. Serie, Jg. 43/75 (2020), S. 381–406.
- Hofmann, Th., Raffael in seiner Bedeutung als Architekt (begonnen als Semperpreisstudie 1889 in Rom), 4 Bde., Zittau 1890–1911.
- Hofmann, Th., Antiquarische Betrachtungen. Ein Mahnwort für unsere Zeit, in: Architektonische Rundschau, 1902, H. 2, S. 9–10.
- Hülsen, Ch. / Lindner, P., Die Alliaschlacht. Eine topographische Studie, Rom 1890.
- Noack, F, Das Deutschtum in Rom, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1927, Bd. 2, S. 360.
- Schmidt, O. E, Aus der Praxis des geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Anschauungsunterricht, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik, hg. von J. Ilberg, R. I. Richter, Bd. 4, 1899, S. 318–326.
Impressum
Projekt & Texte Regine Schallert
Mitarbeit Regina Deckers, Francesca Denora, Enrico Fontolan, Giovanni Freni, Julia Hagge, Oliver Lenz, Pietro Liuzzo, Josephine Scheuer, Christoph Stolz, Natalie Vitiello
Online Präsentation Tatjana Bartsch
30. Oktober 2024