Mirabilia Urbis 2019
Ausstellung für zeitgenössische Kunst
7.–13. Oktober 2019
Ausstellungseröffnung: Montag, 7. Oktober, 18.00–24.00 Uhr
Ort: Historisches Zentrum Roms (mehrere Orte)
Das Ausstellungsprojekt, konzipiert von Carlo Caloro und produziert von artQ13, wurde von Giuliana Benassi mit der Unterstützung des Assessorato alle Politiche Culturali e Beni Culturali durch Cinzia Guido, Abgeordnete des Municipio I Centro Roma Capitale kuratiert. Beteiligt waren circa 20 italienische und internationale Künstler: Alterazioni Video, Josè Angelino, Elena Bellantoni, Tomaso Binga, Carlo Caloro, Federica Di Carlo, Stanislao Di Giugno, Rä di Martino, Flavio Favelli, Grossi Maglioni, Hortensia Mi Kafchin, Britta Lenk, Via Lewandowsky, Girolamo Marri, Diego Miguel Mirabella, Jonathan Monk, Matteo Nasini, Lulù Nuti, Leonardo Petrucci, Giuseppe Pietroniro, Calixto Ramirez, Julian Rosefeldt, Corrado Sassi, Alice Schivardi, Lamberto Teotino
Die Ausstellung
Die Künstler und ihre Werke
Die Aufführungen am 7. Oktober 2019
Das Buch
artq13
Presssespiegel
Die Ausstellung
Mirabilia Urbis ist eine Wanderausstellung, ein Weg aus Stationen, die sich in unterschiedlichen Räumlichkeiten um den Campo de’ Fiori, einem der charakteristischsten Plätze Roms, und im Labyrinth der umliegenden Straßen und Gassen finden. Der Titel wurde den alten Touristenführern entnommen, die während des Mittelalters die meistgenutzten Navigationssysteme waren, ein unabdingbares Instrument, um sich in den dunklen Gassen zurechtzufinden, und um spirituelle Ziele und pagane Monumente erreichen zu können. In diesen Büchern wurde der antiken Kunst viel Aufmerksamkeit geschenkt, während zeitgenössische Stätten nicht beachtet wurden.
In der Ausstellung ist genau das Gegenteil der Fall, aber der Rhythmus, der mit dem Gang des Menschen oder der Fahrt im Pferdewagen suggeriert wird, wird als ein Erfahrungsangebot wiederhergestellt, indem der Besucher aufgefordert wird, zu Fuß zu gehen oder in eine der bereitgestellten Rikschas zu steigen. Unabdingbarer Gefährte des Besuchers ist der Ausstellungsführer, der als Konsultationshilfe, Kompass und Vergrößerungslinse einiger Ausstellungsorte und der ausgestellten Kunstwerke dienen soll. Die Karte mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten stellt ein praktisches Hilfsmittel dar, um der Route folgen zu können. Die Informationstexte zu den Orten, die die Werke beherbergen, geben den Blick der Geschäftsinhaber und Anwohner des Viertels wieder und ihre Stimme, die das Innen und Außen erzählt. Den Künstlern und den Werken ist im Katalog je eine Seite zur Vertiefung gewidmet, um den Besucher in das Universum der einzelnen Projekte und die Gründe für die Auswahl der Werke am jeweiligen Ort einzuführen.
Den Besucher erwartet keine klassische Touristenführung, sondern eine wirkliche Erkundung des Lebens im Viertel, eine von Gegensätzen, kohärenten Momenten, Zwischenstopps und Beschleunigungen geprägte Reise. Wenn die präsentierte Kunst zeitgenössisch ist, dann ist es der Katalog ebenso. Die Untersuchungsobjekte sind nicht die archäologischen Stratifikationen aus hartem Stein, sondern die Fluidität der Veränderungen, die in den letzten vierzig Jahren erfolgt sind. Ziel der Ausstellung ist es, mittels künstlerischer Praktiken diese Veränderungen zu analysieren und festzuhalten, die zu einer Mutation der sozialen, ökonomischen, administrativen, politischen, kulturellen und künstlerischen Strukturen geführt haben, auf welche sich die Grundwerte unserer heutigen Realität stützen. Daher wurden für die Ausstellung Orte ausgewählt, die sich der Welle der wirtschaftlichen Veränderung innerhalb des Viertels widersetzt haben, wie z.B. das Kino, der Buchladen und das Geschäft des Geigenbauers, zusammen mit neueren Erscheinungen, die das Resultat einer jüngeren politischen Linie sind, wie zum Beispiel der Pub auf der Piazza oder der Cannabis-Laden. Einige Zwischenstopps stellen hingegen historische Sehenswürdigkeiten des Viertels dar, ausgewählt mit der Intention, ihre kulturellen Wurzeln wieder zu beleben.
Wenn die ausgewählten Orte einander diametral gegenüberstehen und ihre Zusammenstellungen zwiespältig sind, zeigen sie damit die konfliktreiche Seele einer Erzählung von Melodien und Kakophonien, von sanften und schiefen Tönen, von sternreichen Nächten bei Mandolinenspiel und von Gassen, die vom Rauschen des schmutzigen Geldes verdunkelt sind. Die ausgestellten Arbeiten setzen sich mit dem konfliktreichen Rhythmus dieser Geographie auseinander, mit seiner Konsistenz und Frequenz, um seine Kontraste, Oberflächen und Unterbrechungen interpretieren zu können, um Idyllen zum Schweigen zu bringen oder Utopien und Dystopien zu verstärken. Autobiographische Zeugnisse, Interviews, Anekdoten und historische Nachrichten: in Mirabilia Urbis fließt alles scheinbar frei und ohne Regel zusammen. Das Spielfeld ist ein komplexer sozialer Raum, der an den Grenzen des Möglichen fähig zu sein scheint, sich selbst zu lenken und sein Gleichgewicht zu behalten, dies allerdings ohne Sicherheit und in ständiger Evolution. Es geht somit um ein Ökosystem, welches das Neue willkommen heißt und das Alte beweint, das fortfährt zu existieren, indem es seinen Anblick verändert, langsam seine Identität modifiziert und gleichzeitig versucht, die Grenze nicht zu überschreiten. Ein System, das versucht, die für das Leben notwendige Vielfalt mit all ihren Widersprüchen, Kunststücken und kleinen Zaubertricks zu beschützen – ein ständiger Konflikt, der sich zwischen diesen Seiten ebenso wie auf der Piazza und in den Straßen in einen Energiegenerator verwandeln will. Ein Konflikt also, der in dialektischem Sinne wie eine neue Ressource klingt, wie ein Katalysator.
Die Künstler und ihre Werke
Das Incipit des Weges bilden die Videos, die im Cinema Farnese gezeigt werden – Deep Gold von Julian Rosefeldt und America è la terra von Tommaso Binga: beide Werke repräsentieren auf unterschiedliche Weise zwei surreale Planeten. Das eine Video beschäftigt sich mit extremen Feminismus, der zwischen den Straßen und Bars einer surrealen Realität inszeniert wird, das andere Video hingegen behandelt die Subversion des Entdeckergeistes, indem es mit dem Amerika von Kolumbus in einem Delirium von Worten und Bildern spielt. Im Foyer finden sich die Werke von Stanislao Di Giugno, die die Welt der virtuellen Beziehungen, der Social Media und des Internets untersuchen und Details von Kommentaren auf Instagram als malerische Gelegenheiten präsentieren. Zusammen mit den photographischen Arbeiten von Lamberto Teotino wird das historische Kino zu einem Kaleidoskop von Blicken in die Zukunft, die jedoch in der Vergangenheit angesiedelt sind. Die gesamte Ausstellung spielt mit dem Kommen und Gehen der Zeit, wo Vergangenheit und Zukunft in Konflikt zu stehen scheinen, wo der Mythos zur Gegenwartsperspektive wird. So verschmilzt die Skulptur Naturam expellas furca tamen usque recurret / Potrai scacciare la natura col forcone tuttavia sempre tornerà, die aus einer Kollaboration zwischen Carlo Caloro und Via Lewandowsky entstanden ist, die Kapitolinische Wölfin mit einer Maschine zu einer naturtechnologischen Vision, die als verführerische Alternative dazu bestimmt ist, zukünftige Katastrophen hervorzubringen wie beispielsweise die der Nahrungsmittelkrise, angekündigt durch den Eimer mit verschütteter Milch. Zu der Reflexion über die Beziehung zwischen Mensch und Maschine hat Hortensia Mi Kafchin einige Zeichnungen ausgestellt, die sie in verändertem Bewusstseinszustand im Cannabis-Laden angefertigt hat, wobei das Konzept der Vision apokalyptischer Szenarien ironisiert wird.
Die gesamte Ausstellung wird vom Kriterium der Gegenüberstellung zwischen den Charakteristiken des Ortes und den Recherchen der Künstler geleitet, die oftmals direkt vor Ort experimentiert haben oder diesem die Inspiration für ihr Projekt direkt entnommen haben. So auch das Werk von Josè Angelino, das gemeinsam mit dem Geigenbauer Michel aus der Via di Montoro entwickelt wurde, um den Saiten neuer Instrumente über eine Klanginstallation eine Stimme zu verleihen. Oder das Projekt von Matteo Nasini für die Buchhandlung Fahrenheit 451 Musica per piccole librerie, das die Bücher und ihre Anordnung musikalisch interpretiert und den Raum, bereits angefüllt mit Papier, mit Klang durchdringt.
Einige Künstler nutzten auch die Gelegenheit, sich mit einem ihnen schon bekannten Ort zu beschäftigen. So im Falle von Rä di Martino und ihrem Werk Tra Amburgo e Haiti, das von einigen historischen Manifesten aus dem Geschäft Hollywood inspiriert wurde, wo sich die Künstlerin nach Schulschluss gerne aufhielt. Lulù Nuti hat andererseits direkt auf der Straße vor der Bar Farnese mit einem ausgebreiteten Teppich an der Ausstellung teilgenommen. Darauf der ‚Sockel‘ einer mobilen Statue, um ausgehend von persönlichen Kindheitserinnerungen der Künstlerin in diesem Cafè über die Wahrnehmung der Zeit zu reflektieren. Flavio Favelli, dessen Projekte stets von autobiographischen Topoi ausgehen, hat in den Vitrinen der Reiseagentur im Vicolo del Gallo eine Collage mit Werbebildern aus verschiedenen Playboy-Magazinen der 80er Jahre ausgestellt und damit die Agentur verdeckt, die in jener Zeit eröffnet wurde.
Örtlich-zeitliche Spannungen, Konflikte und Einmischungen verbinden die Werke untereinander und diktieren den Rhythmus des Weges. Im Eingang des Palazzo Falconieri – Sitz der Ungarischen Akademie – befindet sich die Installation von Grossi Maglioni, Occupazioni: the split child, eine Episode des Projektes Occupazioni der Künstlerinnen, das die Geschichte vom Erwachsenwerden eines Jungens erzählt. Im ersten Stock zeichnet das Werk von Giuseppe Pietroniro den konfliktreichen Tanz zwischen wirklichem Raum und Bühne nach, während die Videoarbeit Guerra e Pace von Alterazioni Video mit dem Genre der Fake News spielt und zur Reflexion über den starken Gegensatz zwischen Realität und Fiktion innerhalb unserer Gesellschaft einlädt. Nicht weit entfernt, in der Via Giulia, auf der Höhe des Kriminologischen Museums, porträtiert das Werk L’enigma anello Pino Pelosi von Corrado Sassi mit dem aufgehängten Bild des Rings die ungeklärte Ermordung von Pier Paolo Pasolini, wobei die Worte des vermeintlichen Mörders als zweifelhaft präsentiert werden. Nicht weit entfernt, im Vicolo della Moretta, spielt die Performance Art Lover – L’amore immobiliare von Sassi mit dem Publikum, indem er eine Wandskulptur mit einer digitalen Beschriftung versieht: Während der Titel unverändert bleibt, verändert sich der Name des Künstlers durchgehend.
Die typischen Werkstätten des Viertels sind heute fast alle verschwunden. Eine Ausnahme bildet die Restaurierungswerkstatt von Bilderrahmen aus Renaissance und Barock in der Via Monserrato, wo Diego Miguel Mirabella den malerischen Diskurs – die ‘Ethik‘ seiner Dichtung – vermieden hat, um mit einer sphärischen Objektskulptur zu spielen, die mit großem Pomp auf einem hölzernen Sockel präsentiert wird und ein Echo zum Ambiente der Werkstatt bildet. Auf derselben Straße beherbergt die Galerie Independent die Werke der Künstlerinnen Britta Lenk und Federica Di Carlo. Es ist der einzige Ort der Tour, der grundsätzlich für Ausstellungen gedacht ist und von den Künstlerinnen auf metaphorische Weise genutzt wird. Im Erdgeschoss spielt Lenks erleuchtete Installationsskulptur mit der Beziehung zwischen Spiegel und Licht und verwandelt den Raum in einen Kreislauf von Sonnenauf- und -untergängen. Im Kellergeschoss begleitet Di Carlo den Besucher in eine von Klängen durchdrungene Unterwasserwelt, wo der Ruf des Meeres mit dem Erwachen des Bewusstseins gegenüber der Natur zusammenfällt, die nun in Konflikt zum Menschen steht. Ein anderer unterirdischer Raum ist die Krypta der Kirche Santa Lucia al Gonfalone, die von dem musikalischen Werk von Calixto Ramirez erfüllt ist: Concerto a 64 mani ist ein Tribut an die Musik und den Tanz, wo der Rhythmus von Hand gemessen wird und die Zeit mit der Geste im Raum übereinstimmt.
Der Ausstellungspfad ist von Auftritten punktiert, die es dem Besucher ermöglichen, den Spaziergang mit ephemeren Veranstaltungen zu verknüpfen: Die Performance von Girolamo Marri im Wala – Disquisizione sul Confine –; die Klangvorführung von Caloro, die sich auf das Neurofeedback der Kommunikationsdynamiken stützt, in einem Raum der Ungarischen Akademie; der Parcours von Alice Schivardi, der die Strecke nachzeichnet, die der Partisanenkämpfer Mario Fiorentini einst auf dem Fahrrad auf dem Weg zum PCI genommen hat. Andere Darbietungen hingegen sind Aufführungen, die dem ‚Wanderer‘ als Momente der Pause angeboten werden, um innezuhalten und an dem Werk teilzunehmen. Darunter die Aufführung Brainwash von Elena Bellantoni im Salon Head Space – eine metaphorische Aktion, die die Massage des Friseurs in eine Reflektion über die politische Gehirnwäsche verwandelt; die spielerische Performance Leon Hard von Leonardo Petrucci, der mit den studentisch leichtsinnigen Gewohnheiten im Pub Drunken Ship spielt; der Kaffee im Bar Perù, der mit durchbohrten Löffeln von Caloro serviert wird, die an die berühmte Operation Blue Moon in den 1970er Jahren erinnern sollen.
Einige Arbeiten rufen also die lokale Geschichte in Erinnerung und reflektieren über die politischen und sozialen Veränderungen. Campo de’ Fiori war Sitz politischer Demonstrationen, signifikante Kreuzung ideologischer und politischer Ereignisse, gerade auch aufgrund der Nähe zum historischen Sitzes des PCI. Abschluss der Tour bildet das Werk von Jonathan Monk Che fare?, das im Zimmer eines B&B in der Via del Pellegrino den Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart ironisiert und auf subtile Weise mit der Frage spielt, die die gesamte Ausstellung treibt. Mit der Kopie des berühmten Werkes von Mario Merz will der englische Künstler den Touristen mit der Frage konfrontieren, die mittlerweile von ihrem historischen Kontext entfernt ist und auf die zwei hypothetische und gegensätzliche Antworten gegeben werden können: Hinausgehen, um die Monumente (Mirabilia) zu sehen oder eine Revolution beginnen?
Die Aufführungen am 7. Oktober 2019
Girolamo Marri, Disquisizione sul confine
Die Performances von Girolamo Marri sind Konferenzen ohne Anfang, Ekstase der Gruppenmeditation, tonlose Interviews ohne Fragen oder Antworten, Vorlesungen ohne Thema, Reden als Improvisation mit einem Musikinstrument, kognitive Karten und endlos zu korrigierende, aber nie verständliche Texte, flüchtige Installationen: Sie stellen den Versuch des Künstlers dar, die Idee der fluiden und unvorhersehbaren Existenz widerzuspiegeln. Seine Sprache ist stets an eine Aktion gebunden und geht, auch wenn diese das Ziel hat, eine Installation oder eine graphische Arbeit zu schaffen, von einer improvisierten Geste aus, die sich frei im umgebenden Raum und im Zuschauer spiegelt.
Elena Bellantoni, Brainwash
Brainwash ist ein Projekt, das vom Konzept der Gehirnwäsche ausgeht, eine Aktion starker Konditionierung, mit der der Wille und die Persönlichkeit eines Individuums unterdrückt werden, um seine oder ihre Ideen und Konventionen radikal zu modifizieren. Davon ausgehend inszeniert Elena Bellantoni eine Performance, in der der Gast während einer Massage, anstelle der Kopfwäsche beim Friseur, einen Text hört. Der Text tritt begrifflich wie politisch in Konflikt mit der verführerischen Natur der Massage. In der Phase der Reflexion führt die Künstlerin die Person vor einen Spiegel und stellt eine klare Frage, um die Aktion mit einer Antwort abzuschließen, die von der Aktion selbst konditioniert wurde.
Carlo Caloro, Binding or not-Binding Commitments
In der Performance von Carlo Caloro Binding or not-Binding Commitments kommt die Technik des Neurofeedbacks (oder EEG) zum Einsatz, eine nicht-invasive Technik, die auf neurokognitivem Level genutzt wird, um klinische Fälle wie etwa ADHD oder Migräne zu behandeln. Normalerweise ist es für eine vollständige Aufnahme einer einzelnen Person notwendig, vier Elektroden auf der Kopfhaut zu befestigen. In der Performance wird allerdings jedem Chorsänger eine einzelne Elektrode angelegt, deren elektro-enzephalische Linien simultan aufgenommen und über einen Verstärker abgespielt werden. Wenn die Aufmerksamkeitsspanne der Sänger und das empathische Level erhöht sind, dann können ihre Stimmen aus vier Lautsprechern gehört werden, die einen einzelnen harmonischen Klang hervorbringen. Die Arbeit stellt sich als Dispositiv dar, welches in realer Zeit die Kooperation und Konfliktlösung trainiert. So soll das gegenwärtige Bedürfnis nach einer bindenden Wir-Gemeinschaft thematisiert werden, entgegen der Verbreitung individualistischer und narzisstischer nicht-bindender Ich-Tendenzen.
Leonardo Petrucci, Leon Hard
Die ortsgebundene Performance von Leonardo Petrucci im Pub ist von doppeltem Charakter: Aufführung und Installation. Gezeigt werden soll die jugendlich-leichtsinnige Kneipenatmosphäre, die von einer regen Besucherschaft trinkfreudiger amerikanischer Touristen geprägt ist. Eine der bekanntesten Unterhaltungen ist das amerikanische Spiel Beer Pong, wahrer Protagonist vieler römischer Abende. Indem das Bier, das in dem Spiel normalerweise zum Einsatz kommt, durch einen vom Künstler eigens erfundenen Cocktail, Leon Hard, ersetzt wird, verwandelt sich das Spiel in eine Aufführung, in die Gruppen von Personen involviert werden. Diese Performance wird durch die Installation begleitet – Vinyl Discs der Serie Art & Metal, die der Künstler durch eine Kombination von Titeln aus der Rock und Metal Szene mit berühmten Kunstwerken als verwirrender Bilderparcours geschaffen hat. Die Ironie der Plattensammlung begleitet die des Spiels. Sie wird durch den Rhythmus der Musik im Hintergrund verstärkt, die von den ausgestellten Alben stammt und somit den soundtrack der Performance bilden.
Alice Schivardi, La vita è una ruota
Das Werk La vita è una ruota entstammt einer Unterhaltung der Künstlerin mit Mario Fiorentini, einem Partisanenkämpfer des Jahrgangs 1918, der in unterschiedlichen Aktionen in Rom aktiv war. Besonders die Erzählung des Anschlags auf das Gefängnis Regina Coeli brachte Alice Schivardi dazu, eine itinerante Performance zu konzipieren, die die Strecke des von dem Partisanen genutzten Fahrzeugs, des Fahrrads, verewigt. Am 26. Dezember 1943 warf Fiorentini von seinem Fahrrad ein explosives Päckchen in den Eingang von Regina Coeli, wo 28 deutsche Soldaten gerade Schichtwechsel hatten. Dank der Agilität seines Fahrzeugs konnte er unverletzt dem Schussfeuer entkommen. Unmittelbar danach wurde ein deutscher Beschluss erlassen, der die Nutzung von Fahrrädern verbot. In diesen Jahren simulierte auch der Radrennfahrer Gino Bartali Trainingsfahrten, um Lieferungen an die Partisanen durchführen zu können. Generell war das Fahrrad zur Zeit des Widerstands ein wichtiges Mittel, um Dokumente zu transportieren und so die Angriffe zu koordinieren. Ausgehend von diesen Erzählungen konzipiert die Künstlerin eine Performance mit der Absicht, die antifaschistische Aktion Fiorentinis auf dem Fahrrad nachzuzeichnen und dabei die Strecke so authentisch wie möglich abzufahren. Die Aktion, von Kameras an unterschiedlichen Punkten der Strecke gefilmt, hat zur Konzeption eines Videos von ganz eigener formaler Autonomie geführt. Es wurde von der Künstlerin bei der Ausstellungseröffnung gezeigt, nachdem sie per Fahrrad den Vorführungsort in der Nähe des historischen Sitzes des PCI erreichte, um Fiorentini dort zu treffen.
Das Buch
Die Ausstellung ist in erster Linie als ein Erfahrungsangebot an den Besucher zu verstehen, der wie auf einer Schatzsuche das Viertel auf der Jagd nach den verstreuten Kunstwerken erkunden kann. Das Abenteuer ist aber nicht nur zu Fuß zu erleben, da der zeitgenössische Pilger auch die Möglichkeit hat, ein Rikscha-Shuttle zu besteigen, um die Distanzen zwischen den Kunstwerken und den Aufführungen zu verringern. Neben der fotografischen Dokumentation verbleibt das Katalogbuch, das von Viaindustriae herausgegeben und als Ausstellungsführer während des Spazierganges, als Reisehandbuch und als Katalog der Arbeiten konzipiert wurde.
Das Buch ist reich an Texten und Bildern sowie historischen Informationen, die die Orte mit der Unschuld klassischer Touristenführer beschreiben. Daneben finden sich Auszüge aus Interviews mit Anwohnern, die so das Wanderspiel mit Anekdoten und dialektalen Färbungen bereichern. Auch die jeweiligen Ausstellungsorte sind von ihren Eigentümern beschrieben worden. All dies mit der Absicht, die vorgestellten Kunstwerke standortspezifisch zu erschließen.
Vertiefung:
Giuliana Benassi, “Che meraviglia Roma! L’arte che ridisegna gli itinerari”, in: Mirabilia Urbis, Ausstellungskatalog, VIAINDUSTRIAE publishing, Foligno 2019, S. 16–31 [PDF-Download, 1 MB]
artq13
Seit 2014 ist artq13 als unabhängiges Projekt mit einem festen Standort im römischen Viertel Aurelia aktiv, wo Ausstellungen organisiert und Künstlerprojekte entwickelt werden. Zusätzliche Projekte finden an weiteren von den Gründern Carlo Caloro und Britta Lenk ausgewählten Orten statt. Artq13 stellt die künstlerische Recherche in den Mittelpunkt und experimentiert seit seiner Gründung mit alternativen Finanzierungswegen. In der Konfrontation mit der Problematik der Unterhaltung eines ‚kulturellen Raums‘ muss sich artq13 der Projektleitung ebenso wie den normativen und legislativen Ordnungen stellen, die die kulturellen Entitäten regulieren. Das Konzept eines unabhängigen künstlerischen Raums wird von Seiten der Behörden nicht anerkannt, die auf die Gründung eines Kulturvereins verweisen, der jedoch für den Betrieb eines Ausstellungsortes wenig geeignet scheint, da er bürokratischen, von der künstlerischen Praxis weit entfernten Regelungen unterliegt.
Pressespiegel
– Artribune, 30.9.2019: Mirabilia Urbis: una mostra di arte contemporanea dislocata lungo le antiche vie di Roma
– Roma Today, 9.10.2019: Mirabilia Urbis, mostra d’arte contemporanea “itinerante” per le vie di Roma
– La Repubblica, 10.10.2019: Roma, “Mirabilia Urbis”: scultura, fotografia e video arte intorno a Campo de‘ Fiori
Projekt: Tatjana Bartsch, Giuliana Benassi, Carlo Caloro, Johannes Röll
Texte: Giuliana Benassi, Carlo Caloro
Übersetzungen: Charlotte Huber
Fotografien: Tatjana Bartsch, Giuliana Benassi, Giorgio Benny, Simon D’Exéa, Enrico Fontolan, Sebastiano Luciano, Johannes Röll
Realisierung: Tatjana Bartsch, Madelaine Merino
15.11.2019