Architektur, urbane Räume und Landschaft in der Reisefotografie von Ursula Wachtel
Das Archiv ging 2014 und 2015 durch eine Schenkung in den Bestand der Fotothek ein. Es besteht aus ca. 10.000 Diapositiven, die Ursula Wachtel auf zahlreiche Reisen durch den Mittelmeerraum, den Mittleren Orient, Asien, Afrika, Amerika und Australien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fotografiert hat.
Die Aufnahmen zeigen Stadtansichten, historische Monumente, archäologische Ausgrabungen und Landschaften der bereisten Länder. Darüber hinaus spiegelt sich in einigen der Aufnahmen auch ein anthropologisches Interesse, zum Beispiel am Alltag der einheimischen Bevölkerung oder wenn Besucher der Sehenswürdigkeiten gezeigt werden.
Alle Dias wurden von Ursula Wachtel mit Ort und Aufnahmedatum beschriftet. Dank dieser Informationen stellt das Archiv, selbst wenn die Fotografien nicht immer von professioneller Qualität sind, eine wertvolle bildliche Dokumentation dar. Die Aufnahmen dokumentieren nicht nur den Zustand der jeweiligen Monumente zu einem bestimmten Zeitpunkt, häufig zeigen sie auch die Nutzung durch die Einheimischen oder die Besucher. Sie sind sowohl für den Kunsthistoriker und Stadthistoriker als auch für den Sozialhistoriker wertvoll, da sie nicht nur die Veränderungen der Architektur im Stadtraum zeigen, sondern auch den Wandel des alltäglichen Lebens.
In einem ersten Schritt wurden, entsprechend dem Sammlungsschwerpunkt der Fotothek, die Aufnahmen aus Italien digitalisiert. Es handelt sich dabei um ca. 1200 Diapositive, die in den 1950er Jahren und zu Anfang des 21. Jahrhunderts entstanden sind. In einem zweiten Schritt wurden ca. 240 Aufnahmen einer Syrienreise aus dem Jahr 1995 digitalisiert. Diesen Aufnahmen kommt heute ein besonderer Wert zu, zeigen sie doch Monumente und Orte, die durch den seit 2011 anhaltenden syrischen Bürgerkrieg beschädigt oder vollkommen vernichtet worden sind.
Die Digitalisate wurden mit Photoshop nachbearbeitet, um Flecken, Kratzer oder andere Gebrauchsspuren zu beseitigen. Sie sind in der Datenbank der Fotothek mit den zugehörigen Metadaten vollständig und öffentlich zugänglich. Die Bilder aus Syrien wurden zudem mit bibliographischen Hinweisen zu den jeweiligen Orten versehen.
Diese Online-Ausstellung stellt das Material des Diaarchivs in Auszügen vor.
Die Fotografin
Ursula Wachtel, geboren 1924 in Berlin-Spandau, studierte nach dem 2. Weltkrieg Pharmazie an der Freien Universität und Chemie an der Technischen Universität Berlin, wo sie 1954 promovierte. In den folgenden Jahren war sie als leitende Angestellte und ab 1980 als Gesamtprokuristin in internationalen Konzernen tätig. Sie spezialisierte sich auf Biochemie, Ernährungswissenschaft und Diätetik und veröffentlichte hierzu zahlreiche wissenschaftliche Publikationen.
Seit Anfang der 1990er Jahre engagiert sie sich ehrenamtlich für Kinder mit Stoffwechselstörungen.
Neben vielen beruflich bedingten Reisen machte Ursula Wachtel das Reisen auch zu ihrer privaten Leidenschaft. Seit Mitte der Fünfzigerjahre besuchte sie Länder auf allen Kontinenten und hielt dabei stets ihre Eindrücke mit der Kamera fest. Die entstandenen Fotos spiegeln ihr Interesse an der Geschichte und Kunst der verschiedenen Kulturen. Seit über zwei Jahrzehnten ist sie ehrenamtlich für die Deutsche Stiftung Denkmalschutz tätig, um andere Menschen für bedrohte Kulturgüter zu sensibilisieren.
Ursula Wachtel ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse.
Themenbereiche
1. Italienische Landschaft
2. Italienische Monumente und urbaner Raum der 1950er Jahre
3. Veränderungen: Monumente und Städte 1950er und 2000er Jahre
4. Bilder vom Straßenleben
5. Syrien: Bedrohte Monumente
6. Syrien: Die Monumente und ihr Publikum
7. Syrien: Landschaft und Bevölkerung
1. Italienische Landschaft
Die Landschaft hat einen wichtigen Stellenwert in der Reisefotografie. Ursula Wachtel fotografierte die italienische Landschaft sowohl als Natur- oder Agrarraum wie auch als urbanen Raum. Diese Aufnahmen entstanden von der Mitte der 1950er bis Anfang der 2000er Jahre. In den Fünfzigerjahren erlebte Italien eine Periode der Industrialisierung, die einen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung mit sich brachte. Viele Fotos dieser Zeit zeigen die Landschaften und Küstenregionen in einem noch mehr oder weniger ursprünglichen Zustand, bevor wachsende Industrialisierung und zunehmende Urbanisierung ihre Spuren hinterließen, obwohl zeitgleich zahlreiche Umweltschutzgesetze verabschiedet wurden.
Andere Fotografien, vor allem aus den Regionen Toskana, Apulien und Sizilien zeigen indes auch, dass alte Traditionen der Landwirtschaft oder des Hausbaus auch heute noch ästhetisch und funktional in die Landschaft und den menschlichen Alltag integriert werden können.
2. Italienische Monumente und urbaner Raum der 1950er Jahre
Neben den Landschaften und Küstenregionen waren es vor allem die großen italienischen Städte wie Venedig, Mailand, Florenz, Pisa oder Rom, die Ursula Wachtel in den 1950er und 1960er Jahren besuchte. Hier fotografierte sie vor allem die älteren kunsthistorischen Monumente. Einzig in Mailand erregte auch einmal die Architektur der Moderne ihre fotografische Aufmerksamkeit: Das Pirelli-Hochhaus, 1960 gerade fertiggestellt und eingeweiht, war als damals zweithöchstes Gebäude Europas auch eine touristische Attraktion.
Der besondere dokumentarische Wert der Fotografien zeigt sich etwa in einer Aufnahme der Piazzale Brasile in Rom von 1956. Sie zeigt einen Abschnitt der antiken Stadtmauer, an dem um ein Bild der Maria hunderte Votivtafeln als Ex Voto angebracht waren. Vier Jahre später wurden diese Tafeln entfernt, womit auch ein Ort des volkstümlichen Glaubens beseitigt wurde.
3. Veränderungen: Monumente und Städte 1950er und 2000er Jahre
Die Gegenüberstellung von Aufnahmen mit denselben Motiven, die in einer zeitlichen Distanz von 44 Jahren während der Italienreisen von 1956 und 2000 aufgenommen wurden, lässt Konstanz und Veränderung deutlich werden. Monumente wie die Fontana di Trevi oder Trinità dei Monti sind von unerschütterlicher Beständigkeit, auch wenn die Fassaden restauriert oder gereinigt wurden. Folkloristische Details, wie der Blumenstand auf den unteren Stufen der Spanischen Treppe, wurden jedoch aus dem Stadtbild entfernt. Und die in den Fünfzigerjahren noch verlassen und verträumt wirkende Tiberinsel zeigt auf der Aufnahme aus dem Jahr 2000 bereits Spuren neuer Belebung und Aktivitäten.
4. Bilder vom Straßenleben
Die Aufnahmen vom alltäglichen Straßenleben der italienischen Städte spiegeln die historischen und sozialen Gegebenheiten der Zeit. Einige der Fotografien, die in den 1950er Jahren in Rom, Florenz oder Mailand aufgenommen wurden, zeigen den Wandel Italiens von einem Land mit eher ländlicher Ökonomie hin zur Massenproduktion. Hingegen dokumentieren die Aufnahmen von einer Hochzeit in Florenz oder vom Marktleben die kulturellen Veränderungen in der Mode, den Arbeitsbedingungen oder der nonverbalen Kommunikation.
Andere Fotografien, wie die vom Fischmarkt in Catania, zeigen hingegen das Fortbestehen von sehr einfachen Arbeitsbedingungen. Einerseits stellen solche Szenen den pittoresken Charme und die traditionellen Eigenarten bestimmter Stadtviertel zur Schau, andererseits bezeugen sie aber auch die Armut und Zurückgewandtheit der südlichen Regionen Italiens.
5. Syrien: Bedrohte Monumente
Die Syrien-Fotografien als zweite thematische Gruppe des Archivs zu digitalisieren und zugänglich zu machen ergab sich aus dem großen dokumentarischen Wert, den diese Aufnahmen heute haben, da zahlreiche Kulturgüter dieses Land in den letzten Jahren dem Bürgerkrieg zum Opfer fielen. Ursula Wachtel bereiste Syrien 1995, und ihre Fotos zeigen überwiegend Monumente, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden, heute aber stark beschädigt oder vollständig zerstört sind.
Diese Zerstörungen von Kunst und Architektur lösen auch eine Reflexion über deren ursprüngliche Bedeutung aus. Syrien war seit jeher ein Land in dem verschieden Kulturen aufeinandertrafen und verschmolzen, sein Kulturgut zeigt den Einfluss Mesopotamiens, der Zivilisation des mediterranen Bronzezeitalters und der Phönizier. Später entwickelte sich unter den Einflüssen der hellenistischen und römischen Zivilisation eine hohe klassische Kultur, aus der wichtige Monumente der frühen Christenheit und des Islam hervorgingen.
Der Baaltempel von Palmyra, der 2015 zum größten Teil zerstört wurde, war ein bedeutendes Beispiel für diesen einzigartigen kulturellen Kontext. Der einer synkritischen Gottheit geweihte Tempel war Symbol eines Landes, das ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen war. Sein Temenos und das Heiligtum orientieren sich an architektonischen Vorbildern aus der hellenistischen und römischen Welt, aber auch dekorative Motive aus dem Orient wurden in die Formsprache integriert. Die Gesamtheit seiner architektonischen Gestalt und figurativen Dekoration wurde durch den spezifischen, lokalen Kult bestimmt. Während der byzantinischen Herrschaft wurde der Baaltempel in eine christliche Kirche umgewandelt. So behielt er seine sakrale Funktion und bezeugte eine kulturelle Kontinuität, in der sich die Dialektik zwischen der antiken Welt und der christlichen Kultur entfaltete.
Ähnliche Überlegungen werden durch die Bilder der zerstörten Großen Moschee von Aleppo hervorgerufen. Sie wurde in der Zeit der Ummayyaden-Dynastie erbaut und ist Symbol der kulturellen Kontinuität zwischen klassischer Welt und islamischer Zivilisation.
Die Bilder der folgenden Galerie zeigen Ausschnitte aus dem fotografischen Bestand der im Wachtel-Archiv dokumentierten syrischen Monumente. Weitere Informationen und bibliographische Hinweise finden sich im digitalen Katalog der Fotothek.
6. Syrien: Die Monumente und ihr Publikum
Fotografien für kunsthistorische Zwecke lichten Gebäude oder städtischen Raum bevorzugt ohne Bewohner oder Besucher ab. Diese traditionelle Herangehensweise will vor allem die formalen Aspekte der Architektur herausstellen und blendet dabei die physischen und kulturellen Beziehungen zu ihren Nutzern weitgehend aus. Dadurch gehen Informationen über den Gebrauch und die Funktion der Architektur verloren. Einige Fotografien aus dem Archiv zeigen genau diesen Aspekt und liefern so wichtige Informationen hinsichtlich der Museologie oder weiter gefasst der Semiotik.
So gibt es Aufnahmen, die die liturgischen Räume der Großen Moschee von Aleppo oder der von Damaskus in ihrer alltäglichen Benutzung darstellen. Hier wird deutlich, dass diese Monumente gleichzeitig von Pilgern als Orte des Glaubens und von Touristen als kulturelle Attraktionen besucht werden.
Ähnliches trifft auf die Bilder von dem Heiligtum von Kalat Siman, die Straßen der Altstadt von Bosra, Palmyra und Aleppo oder des bedeutenden Kastells von Krak des Chevaliers zu. Auf den Fotos sind diese Orte mitunter durch Arbeiter, die lokale Bevölkerung oder Touristen bevölkert und spiegeln somit auch den Massentourismus der 1990er Jahre wieder.
7. Syrien: Landschaft und Bevölkerung
Wie schon bei den Italienfotografien nimmt auch bei der Gruppe der Syrienaufnahmen das Sujet der Landschaft eine bedeutende Rolle ein. Die Landschaft ist ein wichtiges Element, um die Geographie und damit auch die Bevölkerung, die Ökologie und die Anthropologie des Landes zu verstehen.
Hervorzuheben sind hier etwa die Aufnahmen des Orontes-Tals, in denen die rationale Aufteilung und Gliederung einer der fruchtbarsten Gegenden des Landes deutlich wird. Aufnahmen der syrischen Wüste dokumentieren sowohl diesen extremen Lebensraum wie auch das nomadische Leben seiner Einwohner, der Beduinen. Die kleine Stadt Maalula ist ein Beispiel für die kulturelle Komplexität des Landes. Die Stadt ist in einer felsigen Berggegend nahe einer Oase angesiedelt, in ihrer Struktur spiegelt sich die enge Beziehung zwischen Natur und menschlicher Siedlung. Maalula ist Sitz einer christlichen Gemeinde, die Aramäisch spricht und diesen Ort schon in frühchristlicher Zeit zu einer wichtigen Pilgerstätte gemacht hat.
Konzeption, Texte und Übersetzungen: Marianne Bieger, Giovanni Freni
Realisierung: Tatjana Bartsch, Giovanni Freni
Fotografien: Ursula Wachtel
Digitalisierung und Katalogisierung des Dia-Archivs: Giovanni Freni
Das Wachtel-Archiv im Online-Katalog der Fotothek
1.7.2016