Massimo Piersanti und die Incontri Internazionali d'Arte
Kuratiert von Maria Giovanna Virga
17. November 2022 bis 10. Februar 2023
Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Palazzo Zuccari, Via Gregoriana, 28, 00187 Rom RM
Der richtige Abstand
„Wenn eins die heutigen Beziehungen zwischen Kunst und Photographie kennzeichnet, so ist es die unausgetragene Spannung, welche durch die Photographie der Kunstwerke zwischen den beiden eintrat.“
Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie (1931)
In den letzten Jahren wurde die Tätigkeit des römischen Vereins Incontri Internazionali d’Arte eingehend untersucht und analysiert: Zahlreiche Ausstellungsprojekte und Veröffentlichungen haben sie gewürdigt; und das Archivmaterial war für all diese Studien und Forschungen stets ein unverzichtbares Instrument. Der Name von Massimo Piersanti, Autor der charakteristischsten Fotografien dieser Ereignisse, tritt aus diesen Dokumenten deutlich hervor. Gegründet wurde der Verein von Graziella Lonardi Buontempo, die von 1970 bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 für die Programmgestaltung verantwortlich war. Der Incontri-Raum war nicht nur ein ergiebiger Rahmen für Künstler, Kuratoren und Kritiker, sondern auch für Piersanti, der dank seiner Position als privilegierter Beobachter der Veränderungen der zeitgenössischen Kunst seine Fähigkeiten als Fotograf ausbauen und testen konnte.
Die Kunstszene der 1960er und 1970er Jahre war zum Interpreten des politischen und sozialen Aufbruchs jener Zeit geworden: Ihre Protagonisten hatten neue Ausdrucksformen erforscht und ausgearbeitet, die in der Lage waren, etablierte Formen und Kontexte in Frage zu stellen. Diese Experimente stellten sich oft als ephemere Kunstwerke und performative Aktionen dar; sie erfolgten mittels zunehmender Nutzung alternativer Räume für Ausstellungen und Veranstaltungen, bei der Produktion von Dokumentationsmaterial und unter der direkten Einbeziehung des Publikums. Die in jenen Jahren tätigen Fotografen waren von diesen Experimentierprozessen nicht ausgeschlossen, sondern wurden zu einer wichtigen Referenz für die Künstler und beteiligten Akteure, für die sie Bilder schufen, die die stattfindenden Ereignisse festhielten. Die Fotografie stellte der Kunst somit ein dauerhaftes Bild von sich zur Verfügung.
Massimo Piersanti ließ sich Ende der 1960er Jahre in Rom als professioneller Fotograf nieder, nachdem er längere Zeit in Neapel sowie im Ausland gelebt hatte. Trotz seiner autodidaktischen Ausbildung wurde er dank seiner natürlichen Neugier Teil der römischen Szene, was ihm erste Erfahrungen im Kino und Theater ermöglichte, bis er mit wichtigen Werbeagenturen für prestigeträchtige Fotokampagnen zusammenarbeitete, etwa für Alitalia und Valtur. In jenen Jahren ermöglichte ihm die Agenturtätigkeit ausgedehnte Reisen und er verfügte über die notwendigen Mittel für modernste technische Fotoausrüstungen sowohl im Studio als auch im Freien. Vor allem aber garantierte sie ihm die Freiheit, die Themen zu wählen, denen er seine freie Zeit widmen wollte.
So begann er 1970 die Zusammenarbeit mit Graziella Lonardi Buontempo und Achille Bonito Oliva. Der Kunstkritiker Bruno Corà stellte ihn anlässlich der Ausstellung Vitalità del negativo nell’arte italiana 1960/1970 im Palazzo delle Esposizioni vor und bat ihn, die bereits von Ugo Mulas begonnene Fotodokumentation der Ausstellung zu ergänzen. Dies war seine erste fotografische Annäherung an ein Kunstwerk und insbesondere an das zeitgenössische Kunstumfeld. Dank dieser Erfahrung beschloss er, das Incontri-Programm zu verfolgen, bis er 1971 im Anschluss an die 7. Pariser Biennale der offizielle Fotograf des Vereins wurde. Von da an wurde seinem Blick die Aufgabe anvertraut, dessen Identität zu repräsentieren, seine Atmosphären zu umreißen und sein kreatives Ferment zu vermitteln.
Die Jahre zwischen 1971 und der Organisation der Ausstellung Contemporanea im Jahr 1973 waren die anregendsten für Piersantis fotografische Produktion im Umfeld der Incontri. Er beteiligte sich selbst aktiv an den Experimenten zu einer Zeit, als sich die Fotografie der bildenden Kunst annäherte und mit ihr vermengte. Piersanti hat seine persönliche Antwort auf die ästhetischen und künstlerischen Veränderungen aufgezeichnet, indem er die damals verfügbaren technischen Mittel manchmal regelrecht forcierte (es gab keine Zeit für lange Belichtungen, das Licht war nie optimal, die Ausrüstung musste leicht sein…) und vor allem seine eigenen technischen Kenntnisse in Bezug auf die traditionellen fotografischen Genres neu interpretierte.
Diese Aspekte treten vor allem in den Performance-Aufnahmen deutlich hervor, in denen man eine Mischung aus Anspannung und Erstaunen wahrnimmt – wahrscheinlich bedingt durch die Tatsache, dass im Voraus keine Anweisungen oder Informationen darüber erfolgten, was passieren würde, was sich dann in der Wahl eines oft zufälligen, selten zentrierten Ausschnitts manifestiert. Die fehlende Unterscheidung zwischen dem, was Bühne und was Szene ist, veranlasste ihn, das Publikum in das fotografische Bild einzubeziehen, um den Raum der Handlung wiederherzustellen. Diese Nähe zum Geschehen wird im Gegensatz zur traditionellen Theaterfotografie zum stilistischen Markenzeichen von Piersanti, dessen Blick sich mit dem des Zuschauers überschneidet.
Die Positionierung des Fotografen in Bezug auf den Raum und das Publikum lässt sich vielleicht in der Suche nach dem „richtigen Abstand“ zusammenfassen. Sie ist nicht nur als die Fähigkeit zu verstehen, den Raum zu lesen, sondern auch als das Bewusstsein, was ein Bild enthalten muss, damit das dort Aufgezeichnete verstanden wird. Der Fotograf Piersanti ist zwar nie direkt sichtbar, aber es gelingt ihm dennoch, eine Spur von sich selbst in der Anordnung der Menschen und im Kontext zu hinterlassen, die seine Präsenz definieren. Einen Grenzfall stellt die Fotografie dar, die als Titel für die Ausstellung in der Bibliotheca Hertziana ausgewählt wurde, auf der Piersantis Schatten, projiziert auf die Stoffplanen von Christos Werk, seine physische Präsenz über seine Rolle als Fotograf hinaus offenbart.
Wie die zeitliche Dimension erhält auch der Raum den Wert eines erzählerischen Mittels. Diese Eigenschaft findet in den Fotografien, die Christos Werk unter Einbeziehung der umgebenden Stadtlandschaft gewidmet sind, ihren stärksten Ausdruck. Die Intuition, das Werk von der Terrasse des Hotels Flora neben der Porta Pinciana aus zu fotografieren, geht zweifellos auf Piersantis Erfahrungen mit den Alitalia-Kampagnen zurück, bei denen die Suche nach einem privilegierten Standpunkt unerlässlich war, um die Szene zu kontextualisieren. Dies war Piersantis erste Annäherung an die Architekturfotografie, die in den Aufnahmen für die Publikation Venti Monumenti Italiani von Bruno Zevi im Jahr 1984 noch deutlicher zum Ausdruck kommen sollte.
Als Piersanti 1977 nach Mailand ging, nahm die Dokumentation der Incontri-Aktivitäten ab und wurde von 1989 bis 1996 sporadischer, als er in Spanien mit der Fundació Espai Poblenou und der Fundació Antoni Tàpies zu arbeiten begann. In diesen Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, beschloss er, sich ausschließlich der Reproduktion von Kunstwerken und der Kunstdokumentationsfotografie zu widmen. Nach der Rückkehr nach Italien begann er erneut, die Ereignisse der Incontri zu verfolgen, obschon er es vorzog, statische Ausstellungen und Installationen zu dokumentieren, die es ihm ermöglichten, die Fachkamera zu benutzen und die totale Kontrolle über die Komposition des Bildes zu haben.
Piersantis persönliches Archiv ist daher ein wertvolles Instrument für die Untersuchung verschiedenster Fragestellungen, was den interdisziplinären Charakter seiner Arbeiten unterstreicht. Sie sind von grundlegender Bedeutung – nicht nur, um die Geschichte der Incontri Internazionali d’Arte nachzuvollziehen, sondern auch, um über die Beziehung zwischen Kunst und Fotografie, die Produktion und den Erfolg von Bildern und von kulturellen Phänomenen nachzudenken. Indem diese Materialien heute neu gelesen und die Intentionen des Autors rekonstruiert werden, lässt sich ein kritisch-interpretativer Diskurs führen, der über eine rein historiografische oder dokumentarische Lesart hinausgeht. Das Archiv von Massimo Piersanti lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Kunst und ihre fotografische Reproduktion, sondern wirft auch interessante Fragen in Bezug auf die Bildkonzepte selbst auf, die als „visueller Text“ verstanden werden können, der gelesen und interpretiert werden muss.
Der Fotograf
Massimo Piersanti (Rom, 1937–2023) war Autodidakt und begann seine Karriere als professioneller Fotograf 1967 in Rom. Nach einem kurzen Abstecher in die Welt des Films und des Theaters etablierte er sich im Bereich der Werbefotografie, wo er an wichtigen Werbekampagnen, insbesondere für Alitalia und Valtur, mitarbeitete. Dank seiner Anpassungsfähigkeit und seiner technischen Kompetenz wandte er sich der Architekturfotografie zu und arbeitete schließlich mit Bruno Zevi an dem Projekt Comunicare l’Architettura. Durch eine Begegnung mit Bruno Corà lernte er 1970 Graziella Lonardi Buontempo und Achille Bonito Oliva kennen, für die er die Ausstellung Vitalità del Negativo dokumentierte und damit an die Arbeit von Ugo Mulas anknüpfte. Mit der Ausstellung Contemporanea wurde er 1973 zum offiziellen Fotografen der Incontri Internazionali d’Arte. Trotz seines Umzugs nach Barcelona von 1989 bis 1996 – eine Zeit, in der er hauptsächlich mit der Fundació Espai Poblenou und der Fundació Antoni Tàpies zusammenarbeitete – verfolgte er die Aktivitäten der Incontri auf seinen Reisen nach Italien. Seit seiner Rückkehr nach Rom Ende der 1990er Jahre war er bis zum 5. Februar 2023 als Fotograf tätig, arbeitete an wichtigen Ausstellungsprojekten mit und dokumentierte das aktuelle Geschehen in der römischen Kunstszene.
Videointerview, 11.12.2021, Teil 1–2
Videointerview, 11.12.2021, Teil 3–4
Die Ausstellung im Palazzo Zuccari
Die Ausstellung ist das Ergebnis eines umfangreichen Projekts, bei dem ein Teil des persönlichen Archivs des Fotografen Massimo Piersanti und das Archiv der Incontri Internazionali d’Arte des MAXXI, des Nationalmuseums für die Kunst des 21. Jahrhunderts, digitalisiert wurden.
Die ausgestellten Fotografien sind eine Auswahl der repräsentativsten Aufnahmen der intensiven Kultur- und Ausstellungstätigkeit des römischen Vereins: von 1970 mit der Ausstellung Vitalità del Negativo bis zu den letzten Veranstaltungen vor dem Tod von Lonardi Buontempo im Jahr 2010. Die Idee des Projekts ist es, die Bedeutung von persönlichen Archiven wie dem von Piersanti für das Verständnis der nationalen Kunstszene hervorzuheben – insbesondere in diesem Fall, da seine Dokumentation für die historische Rekonstruktion von Ausstellungen und Ereignissen grundlegend ist. Seine Fotografien sind auch ein nützliches Instrument, um die Entwicklung des fotografischen Bildes in Italien nachzuvollziehen und die einzigartige Beziehung zwischen Fotografie und bildender Kunst in den 1970er Jahren zu verdeutlichen.
Die Zusammenarbeit zwischen der Bibliotheca Hertziana, Massimo Piersanti und dem MAXXI-Museum hat die Digitalisierung von Fotografien, Präparaten, Negativen und Dias ermöglicht, wodurch der Zugang zu diesen Bildern für Forscher und Fachleute erleichtert und ihre weitere Untersuchung und Analyse gefördert wird.
Link zu 449 Fotografien Massimo Piersantis, digitalisiert und katalogisiert von der Fotothek
Führungen
Führung durch die Ausstellung mit dem Künstler (Anmeldung erforderlich):
18. November 2022: 11:00–12:00; 12:00–13:00
22. November 2022: 11:00–12:00; 12:00–13:00
24. November 2022: 16:00–17:00
30. November 2022: 12:00–13:00
2. Dezember 2022: 15:00–16:00
6. Dezember 2022: 12:00–13:00
7. Dezember 2022: 14:00–15:00
15. Dezember 2022: 16:00–17:00
20. Dezember 2022: 11:00–12:00
10. Januar 2023: 11:00–12:00
12. Januar 2023: 16:00–17:00
7. Februar 2023: 11:00–12:00 mit Chiaraluce Izumi
9. Februar 2023: 16:00–17:00 mit der Ausstellungskuratorin Maria Giovanna Virga
Dank
Wir danken für ihre Unterstützung:
Massimo Piersanti (Fotograf)
Maria Giovanna Virga (Kuratorin)
Margherita Guccione (MAXXI)
Giulia Pedace (MAXXI)
Giulia Cappelletti (MAXXI)
Erben von Graziella Buontempo
Johannes Röll (BHMPI, Fotothek)
Tatjana Bartsch (BHMPI, Fotothek)
Enrico Fontolan (BHMPI, Fotothek)
Christoph Stolz (BHMPI, Fotothek)
Maria Bremer (Ruhr-Universität Bochum)
Susanne Kubersky (BHMPI, Kunstbesitz)
Brigitte Secchi (BHMPI, Verwaltung)
Mara Freiberg Simmen (BHMPI, Assistenz)
Impressum
Projekt Massimo Piersanti, Maria Giovanna Virga, Tristan Weddigen
Fotografien Massimo Piersanti
Digitalisierung Enrico Fontolan
Text und Bildunterschriften Maria Giovanna Virga
Übersetzungen Tatjana Bartsch, Christoph Stolz (DE), Meagane Elsie Zurfluh, John Rattray (EN)
Realisierung Web Tatjana Bartsch
Mitarbeit Madelaine Merino, Christoph Stolz
Realisierung Video Moritz Drummer
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16. November 2022